Neutral, objektiv, unvoreingenommen – all das kann ein Bericht von zwei halben Tagen Documenta-Besuch natürlich nicht sein. Es ist eher so, dass sich die Geschichte dem langjährigen Lebensraum gewisser Märchensammler anpasst. Insofern muss der Anfang wohl lauten:
Es ist ein langer Weg (zurück) zur Documenta
Von einer, die auszog, nach langen Jahren des Meidens aus vielerlei Gründen, der Stadt Kassel samt Documenta eine neue Chance zu geben. Und so begab sich die, die einstmals von hehren Zielen angetrieben, das beschauliche Städtchen mit aufstrebender Hochschule als Wohn- und Studienort wählte, im Anschuss an einen Besuch der faszinierend eindringlichen und emotional sehr packenden Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ von Wittenberg aus auf die Reise. Womit von vornherein klar war, dass die Documenta als Kaleidoskop der Gegenwartskunst es doppelt schwer haben würde, ein mildes Urteil zu erlangen. Doch lest selbst, wie es der Ex-Kasselerin (ja, noch nicht einmal erste Generation!, also auch nicht Kasselaner und schon gar nicht Kasseläner*) erging. (… und so weiter und so fort…)
*Die Autorin lebte lange genug unter Einheimischen, als dass sie die Feinheiten genauestens erklärt bekam – und noch immer den leinernen Brötchenbeutelchen der Lieblingsbäckerei („mit Herz“ steht drauf und ist auch so gewesen) besitzt, das damals schon für den sonntäglichen(!) Kauf der Frühstücksleckereien verwendet wurde.
Doch nun zurück zum eigentlichen, dem Documenta 14 Besuch. Wohlüberlegt, zuvor seit vor der Eröffnung in Athen verfolgt und irgendwann entschieden: Sie bekommt eine Chance. Denn nach der Documenta 9 (so viel Neues, so viel Kunst in der Stadt, so nah am Mensch, so weltoffene Stadt, so spannende Begegnungen, so politisch und progressiv) und 10 (Catherines privates Kämmerlein – oder: wie die Documenta plötzlich unsichtbar schien und noch weniger von allen besucht werden sollte … aber das ist eine andere Geschichte) hatte die Documenta 11 nur einen schwachen halben Tag, um mich dazu zu bringen, mich auf Dauer erst einmal von dieser Nabelschau mit egozentischen Attitüden fern zu halten. (Es gab noch andere Gründe, die ebenfalls nicht dazu beitrugen, mich milder gegenüber Kassel zu stimmen.) Für die Menschen mit tl;dr ein Vorab-Fazit: Sie hat es geschafft. Anders zwar, aber ja. Sogar so, dass die Autorin vor dem 17.9.2017, dem letzten Tag der nur alle 5 Jahre stattfindenden internationalen Gegenwartskunstausstellung, nochmals hinfährt.
Die Documenta14 besuchen – gleich zwei Mal?
Ein zweiter Documenta14-Besuch steht an, unbedingt. Aber warum? Weil es noch so viel zu diskutieren gibt. Und zu erkennen. Und einfach, weil es aus Berichten anderer noch so vieles Interessantes zu entdecken gibt, was selbst einigermaßen gut vorbereitet beim ersten Mal nicht mehr in dem Zeitplan gepasst hat. Aber das kennt man doch jetzt eh schon aus den Printmedien-, Fernseh-, Blog- und sonstigen Beiträgen? Das ist nicht dasselbe. Kunst ist etwas, dass ganz anders wirkt, wenn es mit eigenen Augen gesehen wird. Wenn ich den Blickwinkel, den Ausschnitt, die Zeit, die ich damit verbringe, etwas zu betrachten, selbst bestimmen kann. Und dann auch die Möglichkeit habe, mich damit auseinanderzusetzen. Es ist ein bisschen wie ein Konzert oder Theater. Aufzeichnungen sind schön, wenn man keine Gelegenheit hat, direkt vor Ort zu sein. Und doch werden sie niemals solche Wirkung auf einen haben, wie bei einer Teilnahme vor Ort. Mancher Kunstfreund unter der Leserschaft möge mir verzeihen, wenn ich nachfolgend zwar Werke zitiere und meine Geschichte dazu, damit und drumherum erzähle, aber ohne Namen zu nennen. Ich bin sicher, der eine oder andere wird etwas erkennen und die anderen vielleicht Geschmack daran finden, es selbst herauszufinden. Ich will keinen Almanach produziere, bei dem die Künstler ordnungsgemäß mit Titel und Jahr gelistet sind – denn es möge ein jeder einen Eindruck der Kunst mitnehmen und nicht nur auf Namen schielen. Wer das will, kann sich den dicken Wälzer namens Katalog besorgen. Das heißt nicht, dass ich nicht den einen oder anderen Namen notiert und auf meine „von diesem Kreativen möchte ich gerne noch mehr sehen“-Liste gekommen wäre. Aber das ist eben meine. (Gemerkt? hier ist wieder ein Ausstiegspunkt. Überhaupt ist dies ein Beitrag, der viele solche Ecken hat. Ich freue mich über jeden, der sie nicht sieht, weil er von der Geschichte mitgenommen wird.)
Documenta beginnt draussen
Immerhin, damit hat die Documenta 14 immerhin schon einmal wieder Zeichen gesetzt. Sie hat sich unübersehbar den öffentlichen Raum zu eigen gemacht – und zwar nicht nur für Bewirtung und Schlange stehen, sondern wieder mit Kunst. Mitten im Zentrum und unübersehbar ist der Friedrichsplatz Schau- und Sehort für eine Art publikumsgeförderter Performance: dem Parthenon-Bau, der aus Spenden verbotener Bücher nachgebildet werden soll. 4 Wochen vor Ende der Documenta sah es schon ganz passabel aus vom Füllgrad. Aber auch auf anderen Plätzen sorgte Kunst wieder für Kritik … ebenfalls öffentliche. Wie der Obelisk an Königsplatz, über den sich selbstverständlich wieder jemand in Printmedien aufregen musste – das gehört schließlich zur Documenta dazu, wie das Spekulieren darüber, welche Kunstwerke wohl aufgekauft werden, um vor Ort zu bleiben …
Verstreut und verbunden – wie das missglückte Signet
Doch gehen wir weiter zu einzelnen Kunstwerken in verschiedenen Ausstellungsgebäuden. Und vor allen zu dem, was sie mir erzählten, indem sie beziehungsweise ihre Pendants oder Fortsetzungen in verschiedenen Gebäuden untergebracht waren. Ja wirklich, sie korrespondierten – mit sich und mit den verschiedenen Zusammenhängen, in denen sie präsentiert wurden. Da waren zum Beispiel die Stahlbrocken – im Pallais Bellevue in einer Ecke am Fenster drapiert – die ich spät abends in Säcke gefüllt in der Neuen neuen Galerie wiederfand. Sie erzählen ein Stück Geschichte von Kassel, am Standort Holländischer Platz wurde es mir klar. Denn dort waren früher die Henschel-Fabriken. Lokomotiven und später Kriegsgerät. Vom schönen Ausblick zu Industriestandort – so ist die Wirklichkeit ja heute noch, eine Stadt hat schöne und hässliche Seiten.
Nordstadt – Portrait eines Quartiers
Fotos wiederzugeben in einer Fotografie ist immer schwer, dennoch erzählen die großformatigen Bilder in einer Halle der Neuen neuen Galerie auch meine Geschichte. Zu meinen Studienzeiten war die Fakultät der Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner nämlich noch in der Nordstadt – mittendrin also in dem urbanen Leben, das die Fotos zeigen. Bewohner, die Migranten aus dem damaligen Jugoslavien, die türkischen und die Übersiedler aus den ehemaligen östlichen Gebieten Deutschlands, die nach dem Krieg zuzogen, teilen sich dieses Quartier seit Jahrzehnten. So fühlte ich mich mit diesen Fotografien zurückversetzt in die Studienzeit, in der es noch die kleinen Läden gab, die Handwerker und Gemischtwarengeschäfte, in denen auch wir Studenten zum Umsatz beitrugen. Ich kann mich an keine Auseinandersetzungen erinnern – und auch das spiegelten die Bilder in ihrer Gesamtheit als Einheit wieder: auch heute scheint das nicht vorhanden. Wer sich mit dem Einfangen von Emotionen in Bildern anfreunden kann, dem sei dieses Portrait eines Stadtteils wärmstens empfohlen. Verändert hat sich dennoch etwas, nämlich das Aussehen und der Status des Viertels. So traurig es ist, so viel Hoffnung habe ich doch, dass es beim rein baulichen Verfall zum Stopp kommt und nicht abgehängt wird. (Früher war mehr miteinander durch die Studierenden, auch das hat sich gewandelt, das Univiertel dort hat sich abgeschottet, leider.)
(*Provokation oder Unüberlegtheit bei der Namensgebung für diesen zusätzlichen provisorischen Documenta-Ausstellungsort einmal beiseite lassend – die Neue Pinakothek in München hat ja ebenso mit der Pinakothek der Moderne zu kämpfen, nur, dass es da dauerhaft beides gibt)
Ethnien und Kunst – oder Kommerz?
Die Stimmung in den Fahrzeughallen hatte überhaupt etwas von Tradition bewahren aber kritisch hinterfragen, Minderheiten zu Wort kommen lassen und Koexistenz oder ethnische Durchmischung sichtbar machen. Rentiere, bei den Sami wichtig, spielen gleich bei drei Objekten oder Installationen eine wichtige Rolle – zweimal die Schädel, einmal mit Gesetzestext … und einmal fotografisch. Die nächtliche Stunde tat sicher ihr Übriges, dass ich nicht einfach nur eine Vollansicht mitnahm, sondern versuchte, die Stimmung, die der Rentierschädel-Vorhang hervorrief, einzufangen.
(Neue neue Galerie, Rentierschädel und Gesetzestext Documenta 14, Foto: © AproposMedia/ Su Steiger)
Ein letztes, korrespondierendes Kunstwerk, das sich an zwei Orten ergänzte, möchte ich aus der Neuen neuen Galerie vorstellen. Es ist an diesen zwei Orten mit unterschiedlicher Konnotation versehen. Bei dem in der Neuen Galerie ist die Kunst käuflich, denn von studentischen Kräften präsentiert und erklärt, können Besucher die „schwarze Seife“ (von einer Künstlerin aus einer Minderheitengruppe, natürlich) in freundlicher, heller Umgebung erwerben. Im Gegensatz zum Ausstellungsstück in den Hauptpost-Fahrzeughallen: hier wirkt es fast schon makaber, wenn es neben und im Umfeld der Rentierschädel und fotografischen Aufbereitung der Kadaverberge präsentiert ist. In einer düsteren Garage noch dazu. Ob das nun so ganz dem Aspekt des Kunstschaffens entspricht, steht zu Diskussion – aber das tun die „Documentaschuhe“ ja auch …
Nichts hat Bestand und doch passt Altes zu Neuem
So oder so ähnlich wirkte die Neue Galerie auf mich, die, neben den freigeräumten Sälen, in denen auch sonst Wechselausstellungen zu finden sind, einige archivarische Werke beisteuert zur aktuellen Gegenwartskunstausstellung. Mit wenig Zeit zur Verfügung provozierte mich dies allerdings zum Auslassen einiger Räume, auch, wenn sich darin das eine oder andere aktuelle Kunstwerk dazwischen gefunden haben mag.
Bei den Statuen und Musik-Kollagen hatte ich Glück und bekam eine Antwort, eine Etage höher war es mir dann eigentlich schon wieder egal – da wirkte der lange Gang mit seinen Transparenten und dazwischen gerückten alten Schulbänken auch einfach so auf mich.
Kunst für alle – aber bitte mehr Öffentlichkeit
Das ist, neben den (quasi unsichtbaren) Signets, der zweite große Kritikpunkt, den ich bei aller Öffentlichkeit und Präsentation der Documenta 14 in verschiedenen Medien habe: Einen schnellen Überblick, warum was wo ist, gibt es nicht. Weder on- noch offline. Im Jahr 2017. Die Ausstellung ist grundsätzlich sparsam mit frei verfügbarer, allgemeinverständlicher Beschreibung der kuratorischen Ansprüche einzelner Ausstellungsorte. Der Besucher, der sich nicht in Horden mit Führung durchschleusen lassen will und auch nicht den Katalog schleppen, wird allein gelassen damit, herauszufinden, warum Statuen (aus dem Bestand) neben Collagen zur neuen Volksmusik stehen. Wer sich nicht auskennt, kann da schon ins Grübeln kommen – und nicht immer findet jeder dann wie ich einen auskunftsfreudigen (studentischen) Aufpasser, der diesbezügliche Fragen beantworten kann. Man möge lächeln darob: aber mir wäre schon ein QR-Code hilfreich gewesen, der eben genau diese Aussagen zu warum, wieso und weshalb gemeinsam mit einem kleinen Text im Internet beantwortet hätte. Von einer App will ich hier ja gar nicht reden – es ist ja keine Dauerausstellung (hüstel).
So wirft die Documenta 14 die Frage auf, warum sie nicht verständlicher ist, wenn auf der anderen Seite die Kunstkritiker schon die Tiefe vermissen. Wobei das ja auch immer relativ ist, das wusste auch Gründer Arnold Bode schon – der die Kunstschau vor allem auch schuf, um dem (Nachkriegs-)Leid die Kunst entgegenzuhalten, für alle zugänglich. Was sie für mich auf jeden Fall hatte, war der Aspekt des Sichtbar Machens – von Minderheiten, Ethnien und ihrem Leben. Und letztlich auch die Diskussion darum, wie wir damit umgehen. Mehr davon, bitte. Und wenn die Kuratoren sich schon etwas dabei gedacht haben, dann sagt es doch bitte auch denen, die nicht dem „inner Circle“ angehören.
Und so ist die Documenta 14 wie alle anderen: Ein Highlight, ein Streitpunkt und ein: Die nächste kann noch etwas besser machen. ich gebe ihr dann auch die Chance, es mir zu beweisen.
OT: Wer sich über die Stadt und ihre (Industrie- und sonstigen)Baudenkmäler informieren will, dem sei tatsächlich Wikipedia empfohlen. Zur Documenta gebe ich den Tipp, die Buchbesprechung bei der Geschichtenagentin zu lesen, womit wir wieder am Anfang meines Beitrags wären, geht es doch um den Titel: Schneewittchen und der kopflose Kurator…
P.S.: Dies ist mein Blogbeitrag zur Blogparade „Mein Sommer: Zwischen Brotjob, Kultur und Ferien„. Kulturmacher*innen und Kulturschreiber*innen, die sich dieser Aktion anschließen wollen, finden die Teilnahmebedingungen hier.
P.P.S.: Ein Rundgang ist nachzulesen bei der Mittelpunkt-Zeitung.de
[…] Kasseler Karlskirche haben selbstverständlich auch einen Besuch abbekommen, als ich im Rahmen der Documenta dort war. Weil mich so viele Bilder beeindruckt haben, habe ich hier eine Auswahl in einer […]